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Agrarökologie – Definitionen, Kontext und Potenziale

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von Peter Clausing

– ursprünglich veröffentlicht auf globe-spotting.de im November 2015 –

Vor einigen Jahren wurde Agrarökologie als „Wissenschaft, Bewegung und Praxis“ definiert (Wezel et al. 2009). Das bringt zum Ausdruck, dass das Konzept weitaus mehr beinhaltet als das, was in unseren Breiten landläufig hinter dem Begriff „Bio-…. “ gesehen wird. Die Bezugnahme auf „Bewegung“ bedeutet allerdings nicht, dass Agrarökologie automatisch mit gesellschaftlichem Umbruch und der Entstehung einer gerechteren Gesellschaftsordnung gleichzusetzen ist. Doch sicherlich ist sie ein ‚Trittstein’ auf dem Weg dorthin.

Die ‚Scharnierfunktion’ der Agrarökologie zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaft existierte nicht von Anbeginn. Als der Begriff 1928 von dem sowjetischen Agronomen B.M. Bensin geprägt wurde, war damit ausschließlich Biologisches gemeint – das Zusammenleben von Organismen auf landwirtschaftlichen Nutzflächen. Auch in der Tradition des Kieler Professors Wolfgang Tischler, der 1965 als erster ein Handbuch mit dem Titel Agrarökologie veröffentlichte, wird das Gebiet vornehmlich als biologisches Fach verstanden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Francis et al (2003, 100) definierten diese Wissenschaftsdisziplin als „integrative Erforschung der Ökologie des gesamten Nahrungsmittelsystems, einschließlich seiner ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimensionen“. Dalgaard et al (2003) verfolgen einen ähnlichen Ansatz.

Der frühere UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, benennt einige gängige Prinzipien der Agrarökologie (De Schutter 2010): Das Recycling von Nährstoffen und Energie innerhalb des landwirtschaftlichen Betriebes (statt der Nutzung externer Inputs), die Integration von Ackerbau und Viehwirtschaft, die Diversifizierung genetischer Ressourcen über Raum und Zeit, und die Betrachtung der Produktivität des gesamten landwirtschaftlichen Systems anstelle einer Fokussierung auf die Hektarerträge. einzelner Sorten. Er definierte drei Merkmale agrarökologischen Wirtschaftens:

1. Agrarökologische Anbaumethoden sind wissensintensiv. Sie verbreiten sich nicht von selbst, sondern erfordern die Vermittlung von Wissen in einer Intensität und (geographischen) Dichte, die ausreichend sein muss, um mit alten Gewohnheiten zu brechen. Agrarökologische Techniken, funktionieren nur, wenn sie nicht „von oben“ verordnet werden, sondern aus einer Kombination des Wissens der Landwirte mit experimentellen Ergebnissen bestehen. Darüber hinaus werden in der Anfangsphase zusätzliche Ressourcen benötigt, die sich jedoch später selbst reproduzieren, so dass sich in späteren Jahren die Abhängigkeit von (staatlich zur Verfügung gestellten) externen Inputs minimiert. Von einem agrarökologischen Pilotprojekt bis zu seiner breiten Anwendung vergehen oft anderthalb Jahrzehnte.

2. Agrarökologische Anbaumethoden sind arbeitsintensiv, was jedoch eingedenk der fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten in vielen ländlichen Regionen des globalen Südens eher als Vorteil anzusehen ist, sofern sich die Arbeitsspitzen der agrarökologischen Techniken nicht mit den Arbeitsspitzen der anderen landwirtschaftlichen Aktivitäten überschneiden.

3. Agrarökologische Anbaumethoden sind mit einer Diversifizierung der Produktion (Pflanzen und Tiere) verbunden, was mit einer größeren Vielfalt der Ernährung ebenso einhergeht wie mit einer größeren Stabilität der Produktion gegenüber äußeren Einflüssen.

Das Potenzial, durch agrarökologische Methoden sowohl die Ernährung zu sichern als auch die Einkommen armer bäuerlicher Familien zu steigern, wurde inzwischen vielfach nachgewiesen. In der Vergangenheit gab es dazu zwei „Meta-Analysen“ (zusammenfassende Auswertungen einer Vielzahl einzelner Studien), die eine Vorstellung vermitteln, was sich mit agroökologischem Anbau erreichen lässt. Während für die Länder des Nordens dokumentiert ist, dass es gegenüber der konventionellen Landwirtschaft im ungünstigsten Fall lediglich zu leichten Ertragseinbußen kommen kann, belaufen sich die Ertragssteigerungen gegenüber den herkömmlichen Anbauverfahren in den Ländern des Südens im Durchschnitt auf 70 bis 80 Prozent (Pretty et al. 2006, Badgley et al. 2007, Rodale Institute o.J.). Zum einen werteten die AutorInnen Publikationen aus, bei denen es um Feldexperimente mit Vergleich der unterschiedlichen Anbauverfahren beziehungsweise um Vergleiche vor und nach der Umstellung auf agrarökologische Verfahren („Vorher-Nachher“) ging, zum anderen führten die AutorInnen Befragungen unter Kleinbäuerinnen durch.

Pretty et al. (2006) konzentrierten sich dabei bewusst auf erfolgreiche, so genannte „best practice“ Projekte, weil sie das Steigerungspotenzial agrarökologischen Anbaus veranschaulichen wollten, was ihnen später zum Vorwurf gemacht wurde. Allein die Zahl von Hunderten erfolgreicher Projekte ist beeindruckend und ein lebendiger Beweis für das Potenzial agrarökologischer Methoden. Über alle drei Kontinente des globalen Südens und acht verschiedene Anbausysteme hinweg wurde in insgesamt 286 Projekten ein durchschnittlicher Mehrertrag von 79 Prozent bei Anwendung agrarökologischer Verfahren ermittelt. Insgesamt waren etwa 12,6 Millionen BäuerInnen an den Projekten beteiligt, die eine Fläche von 37 Millionen Hektar umfassten. Ein wichtiger Befund war auch die Zunahme agrarökologisch bewirtschafteter Flächen im Zeitverlauf – ein Ausdruck der Akzeptanz: Die Zunahme wurde anhand von 68 zufällig ausgewählten Projekten bewertet, die vier Jahre nach der ersten Datenerhebung erneut besucht wurden. Die Zahl der agrarökologisch wirtschaftenden Betriebe hatte sich innerhalb dieser Zeit von 5,3 Millionen auf 8,3 Millionen, die so bewirtschaftete Fläche von 12,6 auf 18,3 Millionen Hektar erhöht.

In einer weiteren Studie untersuchten Pretty et al. (2011) im Auftrag der britischen Regierung 40 Projekte in 20 afrikanischen Ländern, die zusammen 12,8 Millionen Hektar und 10,4 Millionen KleinbäuerInnen umfassten. Es ging um Projekte mit einer Laufzeit von drei bis zehn Jahren im Zeitraum zwischen 2000 und 2010. Im Projektverlauf zeigte sich eine Verdopplung der Erträge.

Badgley et al (2007) analysierten 293 Studien, in denen das Ertragspotenzial agrarökologischen und konventionellen Anbaus miteinander verglichen wurde. Die AutorInnen dieser Meta-Analyse waren vor allem an der Frage interessiert, ob die Welt mit dem jetzigen Stand des Wissens und der Verfahrensentwicklung agrarökologisch ernährt werden könnte. Sie berechneten die Ertragsquotienten dieser Studien, getrennt für tierische und pflanzliche Produkte sowie für die Länder des globalen Nordens und Südens. Während sich bei pflanzlichen und tierischen Produkten im Durchschnitt nur geringe Unterschiede zeigten, waren die Unterschiede zwischen Nord und Süd sehr ausgeprägt: Für die „entwickelten“ Länder zeigte der Ertragsquotient eine leichte Ertragsüberlegenheit des konventionellen Anbaus. Für die „Dritte Welt“ wurde hingegen eine Ertragsüberlegenheit bei agrarökologischem Anbau von durchschnittlich 70 bis 80 Prozent ermittelt. Daraus folgerten die AutorInnen, dass das Ertragspotenzial bei agrarökologischem Anbau mit den heute verfügbaren Verfahren im Prinzip ausreichen würde, um den Hunger insbesondere dort zu beseitigen, wo die größte Zahl hungernder Menschen lebt.

Kritisiert wurden diese Ergebnisse von Seufert et al (2012). Die AutorInnen mussten allerdings eingestehen, dass ihre eigenen Ertragsvergleiche, mit denen Sie die von Badgley et al ausgewiesenen hohen Ertragssteigerungen zu widerlegen versuchten, einer systematischen Verzerrung unterlagen. Sie räumten ein, dass bei ihren Berechnungen „die Mehrzahl der Daten aus den Entwicklungsländern untypisch hohe konventionelle Erträge aufzuweisen scheinen“. Die meisten der von ihnen berücksichtigten konventionellen Erträge stammten nämlich von bewässerten Flächen oder lagen mehr als 50 Prozent höher als die örtlichen Ertragsmittelwerte bei konventionellem Anbau.

Einer der wenigen Langzeitversuche in gemäßigten Breiten, eine dreißigjährige Versuchsserie mit Mais und Soja, bescheinigt dem agrarökologischen Anbauverfahren in normalen Jahren gleiche Erträge, während sich in trockenen Jahren diese Art des Anbaus dem konventionellen Anbau als überlegen erwies (Rodale Institute, o.J.). Derart lange Versuchsserien fehlen bislang für die Länder des Südens. Allerdings hat das in der Schweiz ansässige Forschungsinstitut für den biologischen Landbau (FiBL) im Jahr 2007 in Bolivien, Indien und Kenia solche langfristige Versuchsserien gestartet ([1])

Agrarökologisches Wirtschaften ist besonders für kleine Betriebsgrößen, die in vielen Ländern des globalen Südens noch verbreitet sind, geeignet, weil es ohnehin eine inverse Beziehung zwischen Betriebsgröße und Produktivität gibt. Das heißt, kleine Betriebe sind bei halbwegs vergleichbarem Ressourcenzugang, bezogen auf die Fläche, produktiver als große, letztendlich weil kleine Flächen intensiver bearbeitet werden. Diese Beobachtung wurde erstmals 1926 von Alexander Tschajanow beschrieben (wiederveröffentlicht: Tschajanow 1987). Im Jahr 1962 beschrieb der Nobelpreisträger Armatya Sen dieses Phänomen erneut, das im Laufe der Jahre immer wieder in Afrika, Asien und Lateinamerika beobachtet wurde (vgl. Barrett et al 2010).

In einem im Februar veröffentlichten Statement, sagte der Generaldirektor der FAO, José Graziano da Silva, dass “das heute dominierende Modell der landwirtschaftlichen Produktion den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gewachsen (ist).” ([2]) Er vertrat die Ansicht, dass die Produktion von Nahrungsmitteln allein keine hinreichende Bedingung für Ernährungssicherheit darstellt und dass demzufolge die Art und Weise, wie wir produzieren, nicht länger akzeptabel sei – eine Erkenntnis, die bereits sechs Jahre zuvor im sogenannten Weltagrarbericht zum Ausdruck gebracht wurde (IAASTD 2009). Es sind also dringend Alternativen gefragt. Dabei dürfte Agrarökologie als „Wissenschaft, Bewegung und Praxis“ die tragfähigste Alternative darstellen.

Quellen:

Badgley, C., Moghtader, J., Quintero, E., Zakem, E., Chappell, M.J., Avilés-Vázquez, K., Samulon, A., Perfecto, I. (2007): Organic agriculture and the global food supply. Renewable Agriculture and Food Systems 22: 86-108.

Barrett, C.B., Bellemare, M.F., Hou, J.Y. (2010): Reconsidering conventional explanations of the inverse productivity-size relationship. World Development 38: 88-97.

Bensin (1928): zitiert bei Wezel et al. (2009)

Dalgaard T., Hutchings N.J., Porter J.R. (2003): Agroecology, scaling and interdisciplinarity. Agriculture, Ecosystems and Environment 100: 39-51.

De Schutter, O. (2010): Report submitted by the Special Rapporteur on the Right to Food. United Nations, General Assembly, 20.12.2010, A/HRC/16/49. Download (pdf)

Francis C., Lieblein G., Gliessman S., Breland T.A., Creamer N., Harwood, Salomonsson L., Helenius J., Rickerl D., Salvador R., Wiedenhoeft M., Simmons S., Allen P., Altieri M., Flora C., Poincelot, R. (2003) Agroecology: The ecology of food systems. Journal of Sustainable Agriculture 22: 99-118.

IAASTD (2009): Agriculture at a crossroads. International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development. Synthesis Report. Island Press, Washington, D.C. Download (pdf)

Pretty, J.N., Noble, A.D., Bossio, D., Dixon, J., Hine, R.E., Penning de Vries, F.W.T., Morison, J.I.L. (2006): Resource-conserving agriculture increases yields in developing countries. Environmental Science and Technology 40: 1114-1119.

Pretty, J, Toulmin, C., Williams, S. (2011): Sustainable intensification in African agriculture. International Journal of Agricultural Sustainability 9: 5-24.

Rodale Institute (ohne Jahr): Farming Systems Trial. Download (pdf)

Seufert, V., Ramankurtty, N., Foley, J.A. (2012): Comparing the yields of organic and conventional agriculture. Nature 485: 229-232.

Tischler, Wolfgang (1965): Agrarökologie, G. Fischer Verlag, Jena, 499 S.

Tschajanow, A. (1987): Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Campus, Frankfurt/New York –Verlag. Wiederabdruck der 1923 beim Parey-Verlag Berlin erschienenen deutschen Erstausgabe.

Wezel, A., Bellon, S., Doré, T., Francis, C., Vallod, D., David, C. (2009): Agroecology as a science, a movement and a practice. A review. Agronomy for Sustainable Development 29: 503-515.

[1] www.systems-comparison.fibl.org

[2] „The model of agricultural production that predominates today is not suitable for the new food security challenges of the 21st century… Since food production is not a sufficient condition for food security, it means that the way we are producing is no longer acceptable.” pan-international.org/release/phasing-out-highly-hazardous-pesticides-with-agroecology-pesticide-action-network-releases-book-at-iccm4/


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